Bald ein Jahr

Bald jährt sich die dunkelste Phase meines Lebens, die Diagnose, die Entscheidung zum Fetozid, aus der Bald-Mama wurde eine verzweifelte, kämpfende Frau, die ihr Kind, aus Liebe zu eben diesem, noch im Bauch töten ließ kurz vor der Geburt.
Hier sitze ich nun und kann es nicht fassen, Ein Jahr! Wo ist diese Zeit hin? 365 Tage, es ist doch noch so nah! Ich will nicht, dass mein kleines Mädchen schon so lange tot ist, ich will nicht schon so lange ohne sie sein. Ich will das alles nicht, ich will mein Kind. Letztes Jahr um die Zeit war ich doch schon hochschwanger, das Kinderzimmer quasi fertig, der Kinderwagen stand zum Auslüften draußen, die Babykleidung wurde wieder und wieder gewaschen und ich knuddelte meine Nase rein und freute mich unglaublich darauf diesem kleinen Menschen bald in die Augen zu sehen.
Mein Leben lag vor mir, nun liegt es hinter mir.
Mein Kind, Hälfte ich , Hälfte mein Mann. Ab der 26. Schwangerschaftswoche war ich so unendlich glücklich, dass die Überlebenschancen bei über 90% lagen, sollte was passieren. Die 26. Schwangerschaftswoche war doch schon so weit weg, ich war doch schon viel weiter. Immer hatte ich im Gefühl, dass etwas nicht stimmt, aber dass mein Kind am Ende tot in meinen Armen liegt, nein, damit habe ich nicht gerechnet. Tot, mein Kind, unser Kind, tot
Es ist unglaublich unwirklich. Meine Nichte bekommt ihr erstes Zähnchen und zieht sich fleißig an allem hoch und meine Tochter? Weg, tot, kein Lachen für ihre Mama. Keiner der mich als Mama sieht, außer einigen wenigen Sternenmamas, die wissen wie es ist, wenn einen niemand als Mama wahrnimmt.
Oft bin ich müde. Müde vom Sinn suchen, müde vom Sinn finden und Sinn geben. Das Leben einer Mama ohne Baby, die sich doch nichts anderes wünscht, als ihr Baby im Arm zu halten. Ich weiß, dass dies nicht geht, ich weiß, dass ich jung bin, es vermutlich irgendwann ein Geschwisterchen geben wird. Es ändert dennoch nichts an der Ist-Situation, dass sich mein Herz einsam wie nie fühlt. Dünnhäutig hüpfe ich dennoch weiter über meinen selbst gepflanzten inneren Sonnenblumen-Teppich. Schließlich hatte ich ja beschloßen glücklich zu sein. Wenn ich die Augen zu mache und wieder bei ihr bin, dann bin ich es auch. Dieses unfassbare Glück meine Tochte im Arm zu halten. Zu viele vergessen jedoch, dass ich sie hergeben musste, dass da mal einer kleiner vollkommener Mensch in meinem Arm lag. Dieser kleine Mensch, der alles verändert hat.  Ich zähle alles Schöne auf, was ich seitdem über das Leben weiß und gelernt habe. Mache mir bewusst, dass ich ruhiger, erwachsener geworden bin, meine Ziele so viel besser kenne nun, weiß wer ich bin und wer ich sein möchte. Ich habe Dankbarkeit gelernt, Dankbarkeit die von Innen kommt und nicht nur Höflichkeit ist. Ich spüre, fühle, lebe intensiver, ich musste mich so oft mit meinen Dämonen auseinandersetzen, dass wir mittlerweile Freunde geworden sind. Mein Leben ist gut, ich habe alles und doch nichts.
Ich habe einen Termin mit meiner zweiten Hebamme ausgemacht, ich muss darüber reden, es kann noch nicht bald ein Jahr her sein, die Zeit hat da irgendwas falsch gemacht, es geht mir zu schnell. Mit jemand anderem möchte ich darüber nicht reden, ich raste aus, wenn mir jemand der keine Ahnung hat, dümmliche Plattidüden um die Ohren haut. "Du musst damit abschließen." "Du musst diese Gedanken loslassen, sie bringen dir doch nichts." "Du musst weiter machen." "Krieg einfach ein neues Kind." "Es ist doch schon ein Jahr her, langsam muss es doch wieder gut sein." "Was ist denn mit dir los???!?"
Mir stellen sich die Nackenhaare auf bei diesen Sätzen. Denn ich mache ja weiter, oder nicht? Ich kann mich nicht daran erinnern, nicht weiter gemacht zu haben! Und was ich nicht alles muss, da lache ich doch herzlich drüber. Manchmal ist das einzige was ich muss innenhalten. Stehen bleiben und sprachlos von dem zurückgelegten Weg sein. Nochmal Wunden lecken, fassungslos sein, dass ich hier wirklich ohne mein Kind stehe und es einfach kein Alptraum ist aus dem ich erwachen kann.
Manchmal ist alles was ich mir wünsche ein Arm, der mich festhält und eine Stimme die mir verspricht, dass alles gut wird, dass dieses Versprechen gehalten wird und diese Leere nicht ewig nur kaschiert werden muss, von der Maske aus Lachen und meinem alten Ich. Jemand der einfach da ist, nichts sagt, statt mir gute Ratschläge gibt.
Jemand der mir sagt, dass meine Wut auf die Zeit nicht so lächerlich ist, wie ich denke, jemand der versteht und es nicht nur versucht.



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