Stark aus einer stillen Geburt gehen

Ich empfand meine stille Geburt als sehr schön, dass muss ich euch nicht nochmal erzählen. Nie hat man jemals im Leben so eine Chance, Gelegenheit, Zeit sich selber kennen zu lernen. Man bringt irgendwie sich selbst, seine Ängste, seine Träume neben seinem Kind mit auf die Welt. Man wird neu geboren, denn das alte Selbst gibt es danach nicht mehr. Was ist man für ein Mensch, wie geht man mit dem ganzen um, wenn das Kind still zur Welt kommt?
Es hilft manchmal in einer Phase der traurigen Klarheit in die Vogelperspektive zu wechseln. Was ist da überhaupt passiert, wie sitze ich da unten, welche Gefühle gehören zu mir und welche sind einfach übergeschwappte Trauer.

Ich musste mir eingestehen, dass meine eigene Trauer irgendwann besser wurde und ich mich dem Leben wieder öffnen wollte, dies aber für unangebracht hielt.
Als frischgebackene Sternenmama steht man unter Beobachtung, manchmal mehr als eine frischgebackenen Nicht-Sternenmama. Wie gehen wir damit um? Heulen wir? Vernachlässigen wir uns? Sind wir gefährdet? Zerbricht die Beziehung? Lachen wir etwa?
Ich habe mich dem entzogen, indem ich einfach gar keinen gesehen habe außer meiner Hebamme und meinem Mann. Für mich war das Schutz den ich brauchte.
Ich saß viel auf der Couch und habe die Punkte der Raufaser betrachtet, immer und immer wieder. Habe stur immer wieder die gleichen Folgen einer Serie geguckt. Es gab mir Sicherheit. Die Serie verlief, selbstverständlich, immer gleich, war für mich beständig in der immer gleichen Abfolge von Sätzen und Bildern. Die Raufasertapete genauso. Der Mensch neigt dazu Muster zu bauen oder diesen zu folgen. Das Gehirn vervollständigt permanent eigentlich alles was es sieht. Kleine Auslassungen ergänzt es sinnvoll von ganz alleine. Muster beruhigen das Gehirn, lassen es runter kommen, helfen ihm. Wir sind dazu geboren in Mustern zu Leben, es heißt nicht umsonst auch Verhaltensmuster. Achtet mal drauf, überall sind Muster, Verhaltensweisen, sprachliche Muster, Spinnennetze, Bienewaben, Eiskristalle, Musik, Fingerabdrücke,...

Meine Gedanken haben sich in dieser Sucht nach Mustern verselbstständigt und irgendwann habe ich mich selber wie einen besonders seltenen Schmetterling betrachtet. Fasziniert davon wieviel Farben der Verlust meiner Tochter hat.
Etwas kaputte Flügel hatte dieser seltene Schmetterling, aber die hat mein Hirn als Muster einfach wieder ganz gemacht. Da waren so viele Gefühlsnuancen, fein differenziert. Es gibt so viele Arten von Gefühlen die man fühlt: Schmerz, Wut, Glück und Liebe und viele mehr.  Gefühle die man nach einer stillen Geburt alle hat. Ich habe die Nuancen der Gefühle dann mal grob nach Kategorien rausgefiltert:

Einmal natürlich die Vernichtung, die sehr dunkel ist, klebrig, sumpfig, betäubend, schmerzhaft.
Es kommt wenig Licht zu ihr, wie schwere, alte Kellergemäuer die über dir zusammen brechen. Wirst du nicht von Schutt und Asche begraben, nimmt dir eben der Staub die Luft zum atmen, du hast das Gefühl das Leben ist so viel weiter weg.

Dann die Berauschende, gleißend, blendend, windig kommt sie daher, vermeintlich hell erkennst du endlich etwas und lässt  dich in all der Dunkelheit natürlich darauf ein. Aber sie reißt dich mit, unterwirft dich, entzieht dir die Kontrolle.
Berauschenden Gefühlen kannst du nicht viel entgegensetzen, sie überkommen dich, ein wilder Ritt auf einem ungezähmten Pferd, ein Rausch aus Substanzen die du weder kennst noch wirklich verträgst. Der Fall kann tief werden aber in dem Moment ist egal, es ist die pure Vorstufe der Vernichtung.

Die Leise,... ihre Farbe ist unwirklich, nicht greifbar, sie ist etwas lähmend, verzögernd, unverständlich. Wie ein Glimmen in einem wirklich, wirklichen tiefen See mit eiskaltem Wasser. Wie ein starkes Schmerzmittel, du weißt da ist etwas, eine tiefes Gefühl, kommst aber nicht dran. Es macht dich nicht glücklicher, nicht zufriedender, aber eben auch nicht unglücklicher oder wütender, sie lässt dich wenigsten einigermaßen funktionieren. Atmen und die wichtigtsen Alltagsarbeiten lassen sich erledigen.


Dann ist da noch die Beständige, nichts besonderes, weder aufbauend noch niederschmetternd, eine Konstante, die man kennt, der man vertrauen kann. Warme, dunkle Farben aus Samt. Mit beständigen Gefühlen kann man gut leben, man lernt sie kennen und mit ihnen umzugehen, sie verändern sich nicht groß, brauchen aber eine Weile bis sie ihre endgültige Form angenommen haben. Oft denkt man die Gefühle seien beständig obwohl sie es noch gar nicht waren. Es ist das Gefühl was bleibt, wenn alle anderen weg sind, sie sind am Grunde.


Fehlt noch die Kreative. Meine liebste Form von Schmerz, Wut, Glück oder Liebe. Bunt, mit schönen Farben, nicht zu grell, nicht zu schwach und immer wieder neuzusammensetzend. Das Kaleidoskop unter den Gefühlen. Sie überwindet, bringt in Gang, reapariert, ist ein Arbeitstier, verarbeitend. Ihr wollte ich mich nähern, mich ihr öffnen.

Ich habe gemerkt, dass ich nicht hilflos einfach ausgeliefert bin, wenn ich mir selber zuhöre, ich kann eine Wahl treffen. Ich kann aktiv werden, dafür sorgen, dass sich mein Leben mir anpasst und nicht ich mich dem Leben. Das war mein gedanklicher Befreiungsschlag. Die Kreativität strotzt im Elend nur so vor Kraft, so geht es mir jedenfalls. Bin ich glücklich mümmel ich eigentlich am liebsten irgendwo mit einem Buch statt selber etwas in Gang zu setzten.
Was nach der stillen Geburt mit mir passierte war wie eine Kernschmelze, die Atome habe sich verbunden. Untrennbar, ich und meine Tochter. Eine Verbindung weit über das Leben hinaus. Den Tod besiegend.  Eine ungeheure Kraft wurde frei, ich stehe unter Strom und bin auf die Halbwertszeit gespannt. Zerfalle ich? Irgendwann mit Sicherheit, unsterblich ist keiner, die Frage ist nur wie ich bis dahin mein Leben gestalte.
Als ich schwanger wurde, habe ich es als Chance gesehen, wollte die 3 Jahre Elternzeit nutzen um mich neu zu orientieren. Mit Kind. Nun mache ich genau das, ich orientiere mich neu, mit Kind, meiner Sternentochter.Ich dachte erst, dass ich um diese Neufindung betrogen wurde, passiv, es wurde mir zugefügt. Aber Neufindung geht von mir selbst aus, aktiv. Meine stille Geburt ist mein Kraft- und Ruhepol. Wann immer ich das Gefühl habe, dem ganzen nicht gewachsen zu sein, denke ich an die Geburt von mir und meiner Tochter zurück. Diese unbändige Kraft, diese nicht enden wollende Liebe! Das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Stärke. Ich kann es nicht anders beschreiben, ich bin erwacht, ich bin ich, ich bin neu auf die Welt gekommen, ich hatte mein eigenes Herz in den Händen als ich meine Tochter im Arm hatte und sie hat es mir wieder eingesetzt.
Ihre kleine Hand konnte ich nicht lange genug halten, aber mein Herz hält sie für immer.
Selbstbestimmt Leben ist nichts was man erlernen kann, man kann nur angeleitet werden auf dem eigenen Weg der Erkenntnis. Das eigene Lebensmuster zu entdecken ist sehr spannend und erfordert Mut. Es bedeutet Vetrauen in sich zu setzen, auch dann wenn es kein anderer tut. Entscheidungen zu treffen die andere nicht verstehen können, aber das ist okay, denn wir können die Lebensmuster der anderen nicht sehen oder nur die allerwenigsten.
Ja, so seltsam es klingen mag, ich ziehe eine wahnsinnige Kraft aus der stillen Geburt, denn eine stille Geburt verschiebt den Fokus. Da ist kein Kind, da bist nur du mit dir alleine wenn du die Augen zu machst. Nur du. Was machst du?  Gehst du unter oder schwimmst du? Kämpfst du oder verlierst du? Und los.

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